LESEPROBE

Kapitel 1

  

Schlaf, mein Kind, die Nacht beginnt

der Wind spielt in dem Blättermeer

und singt ein Wiegenlied dir her

Schlaf, mein Kind ...

  

Der helle Klang der Stimme, so zart, so süß, verlor sich im leisen Tröpfeln des Regens, das sich beharrlich von irgendwoher in mein Bewusstsein drängte. Nur die sanfte Schaukelbewegung, die mein Wiegenlied begleitet hatte, blieb.

 

Ich bin so müde.

 

Meine Augenlider sperrten sich gegen das Erwachen.

 

Lass mich hierbleiben.

 

Ein brennender Schmerz in meinem Rücken schob sich zwischen mich und dieses wolkenweiche Gefühl der Geborgenheit.

Ich schlug die Augen auf.

 Um mich herum war es vollkommen dunkel.

 

Wo bin ich?

 

Meine Unterlage war hart, zu hart. Ich tastete mit den Händen nach etwas Weichem, auf das ich meinen schmerzenden Rücken hätte betten können, aber da war nichts.

Stattdessen stießen meine Finger gegen einen kalten Gegenstand, der zum Ende hin spitz zulief und ...

 

Autsch!

 

Scharfe Kanten. Metall. Am anderen Ende ein Griff.

 

Ein Messer!

 

Die Klinge war nass. Klebrig nass.

 

Blut?

 

Hastig zog ich die Hand zurück und versuchte, mich von dem verstörenden Fund wegzuschieben, doch es war kein Platz – weder oberhalb meines Kopfes noch neben mir. Ich stieß überall an. Erneut tastete ich mit den Händen meine Unterlage ab. Trocken. Kühl. Aber nicht metallisch kühl. Hart, aber nicht asphalt-beton-steinhart.

 

Holz!

 

Eine fürchterliche Ahnung jagte mir eine Welle der Panik über den Rücken, auf dem der Schmerz inzwischen tobte wie eine blutige Schlacht.

 

Ich liege in einem Sarg!

 

Ich fuhr hoch und stieß mit dem Kopf gegen die Oberseite meines Gefängnisses, doch die war nicht hart, sondern elastisch. Kein Deckel, also kein Sarg. Ich drückte mit aller Kraft gegen den schwarzen Plastikhimmel über mir, durch den weder Licht noch Luft drang.

 

Ich will hier raus!

 

So sehr ich mich abmühte, das Ding über mir wölbte sich nur wenige Zentimeter nach oben, aber es ließ sich mit bloßen Händen nicht wegdrücken oder durchstoßen. Ich drehte mich auf den Bauch, stützte mich auf Hände und Knie und stemmte den schmerzenden Rücken gegen die Plane - oder was auch immer es war. Durch die Bewegung begann mein Gefängnis heftig hin- und herzuschaukeln. Es gluckerte und gluckste und mir wurde übel.

 

Ich muss sofort hier raus!

 

Die Eingebung kam, kurz bevor mein Mageninhalt den Weg durch die Speiseröhre vollenden konnte. Ich tastete hektisch nach dem Messer und rammte die Klinge in meinen Plastikfeind. Das Messer war so scharf, dass es die dicke Plane wie Butter zerteilte.

Das Erste, was ich sah, war ein leuchtend roter Vollmond. Er hing in einem Wolkenloch direkt über mir.

 

Blutmond!

 

Ich würgte erneut und die gallige Masse landete mit einem lauten Platsch im Wasser.

Verwirrt sah ich mich um. Der Mond warf seine blutige Spur auf eine spiegelglatte Wasseroberfläche, die sich nach wenigen Metern in der Nacht verlor. Rings um mich herum ragten Bäume aus dem Wasser und streckten mir, wie Soldaten einer bizarren Armee, ihre verkrüppelten Arme entgegen.

Ich saß in einem Boot, mitten in dieser unheimlichen Höllenlandschaft.

Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen und es herrschte absolute Stille.

Wieder formte sich in meinem Kopf eine Frage, auf die ich keine Antwort fand.

 

Wie komme ich hier her?

 

Es war windstill, doch die feuchte Kälte kroch in meine Glieder und legte sich wie ein eisiger Umhang auf meine Haut. Ich sah an mir hinunter. 

Ich war nackt!

Instinktiv duckte ich mich hinter die Bootswand und versuchte, mich mit der Plane zu bedecken. Blödsinn! Bis auf den rötlichen Schimmer des Mondes war es vollkommen dunkel und ich war das einzige menschliche Wesen weit und breit.

Aber wo waren meine Klamotten?

 

Welche Klamotten?

 

Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich zuletzt getragen und wann und vor allem warum ich mich ausgezogen hatte. Oder hatte ich mich womöglich gar nicht selbst ausgezogen? 

Auf allen Vieren kroch ich durch das Boot und tastete den Boden nach meinen Sachen oder zumindest nach einer Decke ab, in die ich mich einwickeln konnte. Alles, was ich fand, war ein einzelnes, morsches Ruder, das mir vielleicht helfen würde, dieses verdammte Boot irgendwie in Richtung Ufer zu steuern.

Auch wenn nirgends ein Ufer zu sehen war.

Als ich nach dem Ruder greifen wollte, berührte ich wieder das Messer. Es war Blut, und zwar so viel, dass es nicht von dem winzigen Kratzer stammen konnte, den ich mir selbst eben zugefügt hatte.

Wieder sah ich an mir herunter, konnte in der Dunkelheit jedoch keine weiteren Verletzungen erkennen. Nur in meinem Rücken klebte der Schmerz wie brennende Fasern eines Kleidungsstückes, aus dem ich mich nicht rechtzeitig hatte befreien können, bevor es Feuer fing.

Ich versuchte verzweifelt, mich zu erinnern, was mit mir passiert war, doch meine Gedanken zerflossen, bevor sie Form annehmen konnten. In meinem Kopf schwirrten Bilder, Eindrücke und Gefühle der letzten Minuten wie herrenlose Puzzleteile im schwarzen Nichts. Es gab kein Gesamtbild, in das sie sich hätten einfügen können. Mir wurde schwindelig.

 

Ich falle. Hilfe, halt mich fest!

 

Wieder kotzte ich ins Wasser. Ich beobachtete, wie schleimige Bröckchen auf der Wasseroberfläche davontrieben. Wenn ich nur erkennen könnte, was ich gegessen hatte, dann würde vielleicht die Erinnerung zurückkehren. 

Ich hielt meine Hand ins Wasser. Es war warm, schmeckte aber nicht salzig. Ein See also. Ich packte das Ruder und prüfte, wie tief er hier an der Stelle war. Maximal einen halben Meter. Langsam und stetig navigierte ich das schaukelnde Boot um die verkrüppelten Bäume herum. Je lichter der Baumbestand wurde, desto tiefer wurde der See. Als ich den Untergrund mit dem Ruder nicht mehr erreichen konnte, machte ich kehrt. Das Ufer musste doch dort sein, wo die Bäume standen! Irgendwann stellte ich jedoch fest, dass dem nicht so war. Ich hatte den seltsamen Wasserwald mehrere Male in verschiedenen Richtungen durchquert und doch das Ufer nicht erreicht. 

Ganz hinten im Boot war eine Ruderbank. Ich setzte mich und begann, fieberhaft zu paddeln. Die Bäume hinter mir versanken in der Dunkelheit, vor mir war das Nichts.

Plötzlich tauchte aus dem Nirgendwo ein heller Lichtschein auf. Ich paddelte darauf zu und allmählich schälten sich die Umrisse eines Bootes aus der Dunkelheit.

Eine Laterne baumelte im Heck und beleuchtete den breiten Rücken eines Anglers. Ein Mann! Also war ich doch nicht allein! Ich ließ das Ruder fallen und sprang auf. Gerade rechtzeitig fiel mir ein, dass ich ja nackt war, und hockte mich wieder hin. Hektisch zerrte ich an der Plane, um sie mir vorzuhalten. Dabei glitt das Ruder vom Bootsrand und fiel ins Wasser. Ich fluchte leise.

Inzwischen war ich dem anderen Boot so nah gekommen, dass der Mann mich auf jeden Fall würde sehen können ...