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Gelebt, Erlebt, Überlebt von Gertrude Pressburger

 

Ich habe viel über den Holocaust gelesen. Als meine Tochter vor einiger Zeit die Lebenserzählung der Holocaust-Überlebenden Gertrude Pressburger bestellen wollte, dachte ich: Toll, dass sie sich dafür interessiert. Ich dachte aber nicht: das muss ich auch mal lesen. Denn … siehe oben. Irgendwie kennt man das ja alles schon.

Das Buch lag eine ganze Weile  bei uns im Wohnzimmer herum. Vor ein paar Tagen fiel es mir in die Hände und ich dachte: Ach, eigentlich könnte ich es ja doch einmal lesen.

Ich weiß nicht, wann mich ein Buch das letzte Mal so sehr aufgewühlt hat. Ich finde, wir alle sollten es lesen. Und wir sollten es unseren Kindern zu lesen geben. Die Geschichte dieser Frau (stellvertretend natürlich für alle Opfer des Holocaust) gehört in unsere Herzen eingepflanzt.

 

Ich bin Teil der Generation, die danach kam. Eine Kriegsenkelin. Ich bin eine von denen, die bei ihren Großeltern auf dem Sofa gesessen hat und sich gefragt hat: habt Ihr mitgemacht? Seid Ihr schuldig – wenn auch nur durchs Schweigen und Wegsehen? Selbstredend habe ich diese Frage niemals laut gestellt. Wie so viele meiner Mit-Enkel. Ich habe mich einfach nicht getraut. War ich feige? Mag sein. Ich habe gespürt, dass diese Frage nicht gestellt werden durfte. Aber ich habe genau hingehört. Habe gehört, wenn gesagt wurde, dass ja auch nicht alles schlecht war, was Hitler gemacht. Immerhin hat er die Autobahnen gebaut.

 

In meiner Familie hat niemand freiwillig darüber geredet, wie er oder sie dem Nationalsozialismus gegenüber gestanden hat. Berichtet wurde immer nur von Entbehrungen, vom Verlust der Wohnung, vom Bombenhagel, von Hunger und Flucht, Kinderlandverschickung und vom Wiederaufbau. Ich habe hingenommen, dass es hieß, wir haben nichts gewusst, auch wenn ich schon sehr früh der Meinung war, dass jeder, der sich nicht aktiv gegen Hitler gestellt hat, sich in gewisser Weise mitschuldig gemacht hat.

 

Ich bin Teil einer Generation, die neben Zeitzeugen auf dem Sofa gesessen hat. Heute könnte ich mich tadeln, dass ich als Kind nie den Mut aufgebracht habe, die Fragen zu stellen, die mir auf der Seele gebrannt haben. Denn heute fragen mich meine Kinder: Was haben unsere Urgroßeltern gewusst? Wie haben sie die Machtergreifung erlebt? Und ich kann es ihnen nicht sagen.

 

Meine Kinder und alle, die danach kommen, erfahren nur noch aus dem Geschichtsbuch, was damals geschehen ist. Sie lernen diese Dinge, wie sie lernen, das Plusquamperfekt im Englischen zu bilden, den Satz des Pythagoras anzuwenden, oder auch ein Gedicht zu interpretieren. Es ist nur noch mehr oder weniger lästiger Schulstoff. 

 

Das Furchtbare aber ist: Die Geschichte ist keine Abfolge von isolierten Ereignissen, die sich nicht wiederholen können. Es gibt Zyklen, wiederkehrende Muster. Wir erleben das gerade. Eine bestimmte Art von Rhetorik wird wieder salonfähig. Da kann sich plötzlich ein hoch angesehener Politiker in aller Öffentlichkeit darüber freuen, dass die Anzahl seiner Lebensjahre genau mit der Anzahl abgeschobener Flüchtlinge korrespondiert (bloß ein kleines, beinahe schon harmloses Beispiel, wenn man bedenkt, was mittlerweile so alles möglich geworden ist). Menschenverachtung ist okay geworden, wenn die verachteten Menschen einer bestimmten Religionsgruppe angehören. Man hört sowas ständig und überall – und kaum einer regt sich mehr darüber auf. Im Gegenteil. Es wird abgenickt. Und daran kann man sehen: es sind Muster. Sie wiederholen sich. Sie schleichen sich ein, ganz unbemerkt.

 

Es gibt genügend warnende Stimmen. Zum Glück. Es gibt auch die andere Seite, eine Gott sei Dank freie Presse, die kritisch hinterfragt, die anklagt, die warnt. Und es gibt Bücher wie das von Gertrude Pressburger. 

 

Ich kann über dieses Buch nicht schreiben, ohne meine Geschichte mit in den Blick zu nehmen. Und die meiner Eltern, Kinder und Großeltern. Denn die Geschichte des bloßen Zuhörens, des Abnickens, des Nicht-Aufbegehrens – sie wiederholt sich. Täglich und überall. Wir dürfen das nicht zulassen.

Geschichten wie die von Gertrude Pressburger, Jüdin und Holocaust-Überlebende, sind es, die wir lesen müssen. Immer und immer wieder. Auch wenn wir sagen: Ach, alles schon Tausendmal gehört. Es ist wichtig, es noch einmal zu hören. Oder zu lesen. Denn die Geschichte wiederholt sich gerade. Nicht die deutsche Geschichte. Aber eine Geschichte von Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Menschenverachtung. Eine Geschichte, in der Menschen ihre Würde genommen wird, indem sie auf Religion, Herkunft oder Hautfarbe reduziert werden. In der man ihnen die Hilfe verweigert, weil wir gerade wieder einmal dabei sind zu vergessen, was Humanität bedeutet. 

 

Gertrude Pressburger, Gelebt, Erlebt, Überlebt, Aufgezeichnet von Marlene Groihofer, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Christiane (Sonntag, 29 Juli 2018 22:46)

    Danke, Steffi, für diesen wunderbaren, starken Beitrag. Das motiviert. Mir ging es fast genauso, als ich Kind war. ICH wollte meine Grosseltern nicht in Verlegenheit bringen. Ganz schön verdrehte Welt! Aber heute können wir etwas tun. Immer wieder Bewusstsein schaffen, bei unseren Kindern!!! Liebe Grüsse!

  • #2

    Elke (Montag, 30 Juli 2018 13:24)

    Hallo Stefanie,
    danke für diese Buchempfehlung. Bei mir waren es noch die eigenen Eltern, die ich hätte fragen können/müssen. Aber auch bei uns wurde nie darüber gesprochen. Mein Vater starb sehr früh, meine Mutter war in mehrerer Hinsicht kriegstraumatisiert, aber vor allem wurden Hitler und der Zweite Weltkrieg in meiner Kindheit komplett totgeschwiegen, auch und vor allem in der Schule. Und dann hatten wir plötzlich als Jugendliche plötzlich den Vietnamkrieg und tausend andere Sachen, gegen die wir auf die Straße gingen. Ich bin Jahrgang 1953. Es hat verdammt lange gedauert, bis irgendwann mal der Ruf nach Aufarbeitung kam. Aber laut war er sowieso nie. Und heute sind wir tatsächlich wieder so weit, dass ganze Gruppen gar nicht mehr wahrhaben wollen, was passiert ist. Irgendwie ist das auch genau das Thema, das ich in meinem neuen Roman aufgreife - das Vergessen und Wiederholen.
    Lieben Gruß - Elke

  • #3

    Stefanie (Dienstag, 31 Juli 2018 08:03)

    Ich glaube, es ist eben dieses Nicht-Darüber-Reden Können, was die derzeitige Entwicklung begünstigt. In wie vielen Familien wurde nie über den Holocaust gesprochen? Über den Krieg, ja. Über den Hunger, ja. Aber über die Judenvernichtung? "Ich kann es nicht mehr hören" wird gesagt, wenn mal wieder ein Dokumentarfilm im Fernsehen das Thema aufgreift (nur ein Beispiel). Wir können weder unseren Eltern noch unseren Großeltern einen Vorwurf machen, denke ich. Für sie war das Verdrängen und Vergessen überlebenswichtig. Aber WIR haben eine Verantwortung. WIR müssen laut werden, wenn andere leise waren - und es immer noch sind. Damit die, die sowieso schon laut sind und nach Abschiebung schreien, nach Grenzschließung, sogar nach Schießbefehlen, zumindest in Deutschland keine Chance haben. Und auch in Europa nicht.

    Schreiben wir Bücher, Artikel, diskutieren wir, machen wir den Mund auf, wenn wieder mal jemand behauptet, die Ausländerkinder stören unseren Unterricht, die Asylanten verschandeln unsere Straßen und nehmen uns unsere Jobs weg. Der Rassismus ist subtil, oft ist er versteckt hinter scheinbar schlagenden Argumenten. Aber es gibt schlagende Argumente auch dagegen. Finden wir sie und bringen wir sie an. Wann immer es sein muss.