Es kippt etwas in Deutschland.
Es kippt etwas in mir.
Im tiefsten Herzen bin ich Optimistin. Ich glaube fest daran, dass die Dinge sich zum Guten wenden, immer, irgendwann. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich in einem freien Land aufwachsen durfte, dass ich lernen durfte, selbst zu denken und freie Entscheidungen zu treffen. Ein Land, in das Menschen über viele Jahrzehnte eingewandert sind, weil es hier besser war, als dort, woher sie kamen. Ein Land, dass es geschafft hat, nach der totalen Zerstörung aufzuerstehen, dem es gelungen ist, den Faschismus zu überwinden und gemeinsam mit den ehemaligen Feinden etwas Großes zu erschaffen: Die Europäische Union.
Ich bin auch aus tiefstem Herzen Europäerin. Ich durfte die Sprachen anderer Länder lernen, ich durfte in anderen Ländern leben, Teil von dieser großartigen europäischen Idee werden. Verständigung und auch Liebe über Grenzen hinweg, an denen einmal gekämpft und getötet wurde.
Ich durfte sehen, wie Minderheiten, benachteiligte Gruppen, Menschen mit Behinderungen zum Beispiel, wie mein eigener Bruder, zunehmend mehr Rechte, mehr Gleichberechtigung hinzugewannen. Wie sie integriert wurden in Schulen, in die Gesellschaft (oder wie zumindest die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen wurden). Es war eine Arbeit über viele Jahrzehnte. Genauso wie die Anerkennung von Rechten queerer Menschen, von denen, die mit ihrer eigenen Identität ringen, wie versucht wurde, ihnen das Leben ein bisschen leichter zu machen. Ich nenne diesen Versuch, Menschlichkeit, denn Menschen sind wir alle, das Blut in uns hat immer dieselbe Farbe, egal wie wir aussehen, was wir glauben, wen wir lieben. Ich durfte glauben, dass wir Frauen alle Möglichkeiten haben könnten, genauso wie Männer. Das gleiche verdienen, die gleichen Positionen besetzen dürfen. Und dass wir als Frauen die volle Entscheidungsgewalt über unseren Körper haben sollten, zumindest vor dem Gesetz.
Was ich jetzt sehe, mit jedem Tag mehr, ist eine Rückabwicklung all dessen. Ich sehe wieder Schlangen an Grenzen im Schengenraum, sehe, dass das weltweit anerkannte Symbol der Gleichberechtigung queerer Menschen als „Zirkus“ abgetan wird, sehe, dass kluge, gebildete Frauen in einem politischen Schmierentheater diskreditiert werden. Dass behinderte Menschen, Homosexuelle, Menschen aus anderen Ländern, mit anderer Hautfarbe, anderem Glauben, angegriffen werden, manchmal bespuckt, manchmal zusammengeschlagen. Ich sehe, dass im Bundestag Abgeordnete sitzen, die sich nur und ausschließlich durch Hassreden, Übervorteilung, Un-Menschlichkeit hervorgetan haben. Die all das, was seit dem zweiten Weltkrieg in Deutschland, in Europa erreicht wurde, zerstört sehen wollen. Ich weiß nicht, was diese Leute antreibt. Ich kann nur vermuten, dass die, die sie wählen, weniger Glück in ihrem Leben hatten als ich. Die irgendetwas kompensieren müssen durch Hass, durch Ausgrenzung. Die vielleicht Angst haben.
Und ich sehe, dass die, die sich „konservativ“ oder „gemäßigt“ nennen, sich das Heft von denen aus der Hand nehmen lassen, die dieses alte Deutschland, ich nenne es das „böse“ Deutschland, wiederhaben wollen. Eins, das sie nie kennengelernt haben, wie auch ich nicht. Ich sehe, dass die mit dem Hass auf alles „Woke“ – was in meinem Verständnis auch ein Synonym für Menschlichkeit sein kann – dieses Land zerstören. Europa zerstören.
Ich bin unverbesserlich in meinem Optimismus und glaube nicht, dass die Mehrheit in diesem Land das will. Vor allem nicht in diesem Land! Ich bin aber Realistin genug, um zu verstehen, dass die „Konservativen“, die „Gemäßigten“, die angeblich christlich-sozialen und christlich-demokratischen Herren und die wenigen Damen es zulassen, im falschen Glauben, dass sie es im Griff haben, dass sie die Wähler, die das Extreme wählen, sich wieder einfangen lassen, indem man ihnen sagt: Was du willst, ist richtig. Aber wähle nicht die, sondern uns.
Es ist nicht richtig, Grenzen zu schließen. Es ist nicht richtig, die Regenbogenflagge als „Neutralitätsverstoß“ zu deklarieren. Es ist nicht richtig, denen, die ausgrenzen und zerstören wollen Recht zu geben und so ihre Un-Menschlichkeit akzeptabel erscheinen zu lassen. Und es ist vor allem nicht richtig, den respektvollen Umgang mit unserer Umwelt als „Ideologie“ zu verunglimpfen und die so notwendigen Schritte NICHT zu tun, oder gar rückabzuwickeln.
Und doch passiert genau das. Jeden Tag. Und deswegen kippt auch etwas in mir. Ich verliere die Hoffnung, meinen Optimismus, der mir immer noch aus jeder Krise herausgeholfen hat. Es wird besser werden, habe ich immer gedacht, wenn es schlimm war. Jetzt frage ich mich: Erlebe ich das noch?
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