Leseprobe

Vom Himmel gefallen

 

Wenn es nicht gerade Hochsom­mer und über dreißig Grad heiß war, dann liebte Alphonse Petit seinen Be­ruf. Hinter dem Steuerhebel des gro­ßen Baggers, mit dem er die riesige Schaufel so mühelos bewegen konnte, fühlte er eine Art göttliche Allmacht. Mit einer kleinen Bewegung seiner Hand konnte er das Alte, Hässliche, das niemandem mehr nutzte, aus dem Stadtbild entfer­nen und Platz für Neues schaffen. In fast allen umlie­genden Häusern waren die Rollläden heruntergelassen worden. Die Stadt war wie leergefegt. Vor allem aus den wohlhabenden Pariser Vororten flüchteten die Bewohner um diese Jah­reszeit in die Normandie oder an die lan­gen Sandstrände des Atlantiks. So störte es auch niemanden, wenn Alphonse Petit den Schutt der verfal­lenen Villa auf der Rue des Illusionistes im beschaulichen Pari­ser Vorort Meu­don mit lautem Getöse aus der Bag­gerschaufel in den Container hinun­terkrachen ließ.

Mit routinierter Präzision schob er ein ums andere Mal die Schaufel in den riesigen Haufen aus Mauerresten, Gips, Mörtel, Glassplittern und Me­tallteilen. Als Alphonse Petit den Con­tainer mit einer neuerlichen Ladung ansteuern wollte, nahm er im Grau-Braun des Bau­schutts ein helles Schimmern wahr. Es kam nicht selten vor, dass sich die Sonne in einem Glassplitter fing und der Bag­gerführer seine Arbeit unterbrach, um sich zu vergewissern, dass da nicht doch ein Wertgegenstand in seiner Schaufel ge­landet war. Doch dies hier war kein Glassplitter. Es war viel größer – und weiß. So blendend weiß, dass es den Widerschein der Sonne in einem Spie­gel an Helligkeit übertraf. Alphonse senkte die Schaufel wieder ab und kniff die Augen zusammen. Es – was auch immer es war – ruhte genau zwi­schen einem Pflasterstein von der al­ten Ein­gangstreppe und einem Stück hellgrauen Stucks aus den wenigen Teilen der Fas­sade, die noch erhalten geblieben waren. Es lag dort, sauber und glänzend, als sei es gerade eben aus dem dunstverhange­nen Himmel mitten in seine Bagger­schaufel gefal­len.

Alphonse Petit stellte den Motor ab und kletterte von seinem Führer­haus herunter. Die plötzliche Stille verur­sachte bei ihm ein leichtes Schwindelge­fühl und als er sich vor­beugte, um den Gegenstand in Augen­schein zu nehmen, musste er sich sogar abstützen, um nicht vor Erschütterung vornüber zu kippen.

Es war eine Frau. Eine nackte Frau. Natürlich keine echte, sondern eine aus Stein. Solche Skulpturen sah man in Mu­seen – wenn man Museen besuchte, was Alphonse Petit selten tat. Nein, eigent­lich nie. Dennoch wusste er, dass diese kleine Skulptur etwas ganz Besonderes sein musste, denn so einen reinweißen, makellosen Stein hatte er noch nie gese­hen. Sie lag da – ergeben in ein Schicksal, das sie sich nicht ausgesucht hatte, wel­ches aber auch nicht mehr abzuwenden war.

Ihr Gesicht war ihm zugewandt, der Kopf geneigt, eine Hand auf dem Bauch, die andere ihm entgegenge­streckt, als bitte sie ihn, Alphonse Petit, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Sie war höchstens achtzig Zentimeter groß, aber ihre Hände und Füße, die kräftige Mus­kulatur ihrer Schenkel und Oberarme und die Linien ihres Gesichts wirkten so lebensecht, dass Alphonse Petit fürch­tete, sie könne jeden Moment zu spre­chen beginnen. Er neigte sich vor, um sie aus der Schaufel zu heben, zuckte aber erschrocken zurück, als er seine Hände sah. Sie waren staubig und ölverschmiert. Ratlos sah er sich um. Weit und breit kein Wasser. Kein Teich, keine Regentonne, nichts. Also zog er sein altes Schnäuz­tuch aus der Hosentasche seines Over­alls, benetzte es mit dem letzten Rest aus seiner Wasserflasche und rieb sich, so fest er konnte, die Hände damit ab.

Dann schob er eine Hand unter ihren Rücken, die andere unter das Gesäß, und hob sie – sorgfältig bemüht, nicht den Busen oder ihre Scham zu berühren – aus der vollbela­denen Baggerschaufel.

Er stand eine Weile unschlüssig da, die Skulptur in den Händen wie ein junger Vater, der zum ersten Mal sein Kind ent­gegennehmen darf und nicht recht weiß, wie er es am besten halten soll. Schließ­lich trug er sie zu einem Stück Rasen hin­über, das nicht von Geröll und Schutt bedeckt war und legte sie vorsichtig ab. Dann lief er zu seinem Auto und holte eine Wolldecke heraus. Als er die Figur sorgfältig in die Decke gewickelt auf dem Beifahrersitz ablegte, füllte sich seine breite Brust mit dem stolzen Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben. Noch wusste er nicht, was er mit ihr anfangen sollte, aber er hatte die­ses wunderbare Geschöpf aus Stein vor der Zerstörung gerettet – und das allein machte diesen Tag zu einem guten Tag.

 

~

Es liegt nicht am Stein. Es ist der wunderbarste Stein, den er je hatte.

Die Hände. Sie schmerzen in den Gelenken, an Schwielen und Blasen am Handballen und an den Fingern. Wundgescheuert. Die vielen Stun­den, Tage, Nächte, Monate. Sind es schon Jahre? Wo ist die Zeit geblieben? Sie zerrinnt zwischen seinen Händen. Früher, da hat er sie festhalten, sichtbar machen können, die Ewig­keit des Augenblicks.

Der Nacken. Er brennt. Der Wille sitzt dort, hart und fest. Er will es schaffen, er muss. Es gibt keine Alternative. Aber jeder Tag, der ver­geht, erzählt etwas anderes. Irgendwann, er weiß nicht wann genau, hat sich die Angst neben den Willen gesellt und reißt an seinen Muskeln mit einer Macht, gegen die selbst der Wille sich kaum noch stemmen kann. Die Angst, sie nie­mals erreichen zu können.

Die Augen sind schuld. Ein milchiger Schleier, der ihm den Blick verstellen will auf das, was da eingesperrt ist in dem großen weißen Stein. Frü­her konnte er die Form hinter dem steinernen Vorhang klar und deutlich sehen. Er musste ihn nur mit der Kraft seiner Hände und der Schärfe seines Blicks beiseiteschaffen, Stück für Stück, um zu ihrer Schönheit vorzudringen, ihrer Natürlichkeit, ihrer Wahrhaftigkeit. Aber sie verschwimmt immer mehr. Je tiefer er eindringt in diesen Stein, desto weiter entfernt sie sich. Sie scheint ihn zu fliehen. Aber er darf es nicht zulassen. Er darf nicht aufhören, niemals.

 

Kapitel 1

 

»Lass es uns wenigstens versuchen!«

»Mein Leben ist ein einziger Ver­such!« Ava warf das Küchenhandtuch auf den Fußboden und bückte sich gleich anschließend, um es wieder aufzuheben. »Ein verdammter, misslungener Ver­such! Da, siehst du? Ich kann nicht mal etwas in die Ecke schmeißen und es lie­gen lassen. Selbst meine Wut ist ein Ver­such!«

»Ava, bitte!«

Dirk wollte sie in den Arm nehmen, aber Ava riss sich los und rannte ins Schlafzimmer. Sie warf sich aufs Bett und griff nach den Taschentüchern, doch es kamen keine Tränen. Nicht ein­mal das.

Sie wartete eine Weile, ob nicht viel­leicht doch der große Zusammenbruch käme, aber sie fühlte sich merkwürdig leer. Keine Energie für Verzweiflung. Auch ihre Wut war verglüht wie der Fun­ken einer schwachen Fehlzündung.

Nach Paris ziehen. Neue Eindrücke, neue Menschen, ein neues Leben. Noch vor einem Jahr hätte sie einen Freuden­tanz aufgeführt, wenn Dirk ihr eröffnet hätte, dass er nach Paris versetzt worden war. Jetzt fühlte sie nur Angst. Sie waren erst seit drei Jahren in Hamburg – gerade Zeit genug, um eine Arbeitsstelle zu fin­den, den letzten Umzugskarton auszupa­cken und ein paar nette Menschen ken­nenzulernen.

Und Murielle zu verlieren.

Ruckartig setzte Ava sich auf. Nein. Sie wollte nicht an Murielle denken. Daran, dass Dirk »probieren wir’s« gesagt hatte, weil sie unbedingt ein Kind wollte. So war auch Murielle »ein Versuch« geworden. Ein schmerzhafter Fehlver­such, ebenso wie die Lehre als medizi­nisch-technische Assistentin, das abge­brochene Biologiestudium und ihr Beruf als Lehrerin. Seit ein paar Monaten fragte sie sich sogar, ob nicht auch ihre Ehe mit Dirk nur ein Versuch war. Es war gut möglich, dass sie sich von Anfang an geirrt hatte. In allem. Auch und vor allem in der Liebe.

Versuche konnte man abbrechen. Aber dies war nicht der richtige Zeit­punkt. Sie hatte nicht die Kraft, alleine weiterzumachen. Dirk würde das durch­ziehen. Er würde sie solange bearbeiten, bis sie zustimmte. Weil es seine einzige Chance auf einen beruflichen Aufstieg war. Und sie würde zustimmen. Weil sie auf seinen Job angewiesen waren. Weil Paris ja auch nicht die schlimmste Stadt der Welt war. Und weil sie, Ava, hier in Hamburg doch sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, außer ein paar locker geknüpfte Freundschaften.

Doch! Sie hatte etwas zu verlieren! Etwas sehr Wichtiges. Ein Grab mit einem kleinen weißen Sarg, in dem ein winziger Körper vermoderte. Auch wenn es nur ein Grab war, tat es gut zu wissen, dass sie jederzeit dort hingehen konnte. Das reichte, um ihr das Gefühl zu geben, eine Mutter zu sein und dieser kleinen, verlorenen Seele Schutz bieten zu können, falls sie doch noch irgendwo hier herumirrte und nach ihr suchte.

 

Für den Rest des Tages sprachen sie nicht mehr über das Thema Paris. Abends ging Ava früh zu Bett und als sie am Morgen erwachte, war Dirk schon aus dem Haus. Eine Geschäftsreise, wie­der einmal. Seit Ava nicht mehr arbeiten konnte, war jeder Tag wie ein weites, ödes Feld, das sie überqueren musste. Um überhaupt durch den Tag zu kom­men, schuf sie sich Stationen – emotio­nelle Halteleinen, an denen sie sich ent­langhangeln konnte. Regelmäßige Yoga­stunden, Sitzungen bei ihrer Therapeutin oder auch von Zeit zu Zeit ein Treffen mit einer ehemaligen Kollegin, die jedoch über nichts anderes als die Schule zu reden wusste. Und eigentlich wollte Ava nicht über die Schule reden.

Oft wanderte sie ziellos durch die Stadt oder die umliegenden Felder, schaute sich Fernsehserien an und war­tete darauf, dass Dirk nach Hause kam. Wenn er dann da war, wünschte sie ihn fort. Wenn er fort war, verfluchte sie ihre Einsamkeit.

Heute war sie froh, alleine zu sein. Sie räumte die Wohnung auf und ging zum Friedhof, das dritte Mal in dieser Woche. Die Therapeutin hatte ihr empfohlen, die Abstände zwischen den Besuchen an Murielles Grab zu vergrößern. Das hatte sie auch versucht. So war das mit ihr und den Versuchen. Sie misslangen. Sie musste es üben, das Abschiednehmen. Eigentlich hatte sie ja schon einige Übung darin, aber man konnte es nicht genug üben, fand Ava, denn jeden Moment konnte das Schicksal erneut zuschlagen und ihr einen geliebten Men­schen nehmen. Dann war es gut, vorbe­reitet zu sein.

Die Blumen auf Murielles Grab waren noch frisch. Trotzdem stellte sie einen neuen Strauß daneben und wartete, bis die Sonne über die Bäume gekrochen kam und den kleinen weißen Grabstein in ein gleißendes Licht tauchte, das sie kaum ertragen konnte. Sie starrte so lange auf das grelle Weiß, bis es sich als heller Fleck in ihre Netzhaut eingebrannt hatte und sie die Augen schließen konnte, ohne das Bild zu verlieren. Erst dann wandte sie sich ab.

Es war ein kühler, klarer Oktober­morgen. In der Nacht hatte es geregnet. Die Straßen wirkten wie blank geputzt und die wenigen weißen Wolken eilten mit einer Zielstrebigkeit über den Him­mel, als gäbe es am Ende des Horizonts etwas Wichtiges zu erfahren.

Ava hatte keine Termine heute. Die Panik vor der Leere des Tages war jedoch heute Morgen ausgeblieben. Anstatt wie üblicherweise ihren Fried­hofsbesuch mit einem Cappuccino in dem Café neben dem Eingang zu beschließen, ging sie direkt nach Hause zurück. Sie zog nicht einmal die Jacke aus. Sofort setzte sie sich vor den gemeinsamen Laptop im Arbeits­zimmer. Dirk hatte ihn nicht herunter­gefahren. Als sie die Maus bewegte, öffnete sich eine französische Inter­netseite: Une belle maison, Annonces Immobilières de Paris. Er suchte also schon nach einer Bleibe.

Nachdem sie ihren Ärger darüber mit einer frischen Tasse Cappuccino und einem Keks besänftigt hatte, begann sie, die Angebote in und um Paris zu studieren. Sie stellte schnell fest, dass selbst eine winzige Woh­nung in der Innenstadt unbezahlbar war. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, mitten in Paris zu leben. Sie kannte die Stadt sehr gut, war oft mit ihrer Großmutter dort gewesen, spä­ter auch alleine, und sie wusste aus Erfahrung, was das Leben in einer Millionenmetropole mit ihr machte. Sie war dafür nicht geschaffen. Sie brauchte Wald zum Spazierengehen, Vogelgezwitscher beim Aufwachen, ein Fleckchen Grün vor der Haustüre. Eigentlich brauchte sie auch das Meer in der Nähe oder zumindest das Gefühl, in weniger als zwei Stunden hinfahren zu können. Deswegen liebte sie Hamburg. Der Vorteil an Paris war, dass die Bretagne sehr viel näher lag. Und die Bretagne brauchte sie auch.

Also außerhalb von Paris suchen. Der Westen war schön. Die grünen Hügel, die sich jenseits des Bois de Boulogne und der Seine bis hin nach Versailles erstreckten. Meudon, Sèv­res, Saint Cloud, Garches … Auch hier waren die Wohnungen und Häu­ser teuer, aber es gab wenigstens Luft zum Atmen und die Weite des Blicks über Paris.

Sie hätte gerne ein Haus gemietet, selbst, wenn sie nur zu zweit waren. Immer noch. Und es wahrscheinlich auch bleiben würden. Aber Ava hatte die schönsten Monate ihrer Kindheit in einem Haus verbracht, mit einem großen Garten und der Weite des Atlantiks vor der Tür.

Wie viel Geld würden sie aufbrin­gen können für die Miete? Mehr als jetzt? Sie war sicher, dass Dirk seinen gut bezahlten Job hier in Hamburg nicht aufgeben würde, wenn ihm nicht ein deutlich höheres Gehalt winken würde. Seit sie ihn kannte, war das seine Hauptantriebsfeder: mehr Geld zu verdienen. Es gelang ihm auch ganz gut. Wenn die Firma ihn nach Paris versetzen wollte, würde er eine maxi­male Gehaltssteigerung herausschla­gen. Vermutlich war das alles bereits geschehen. Vermutlich war es für ihn überhaupt keine Frage mehr, dass sie nach Paris zogen – auch wenn er sie gefragt hatte. Eine rhetorische Frage. Bestimmt hatte er auch schon eine Bleibe ausgesucht. So einen teuren Neubau, modern, kalt, steril.

Aber in so etwas würde sie nicht einziehen! Sie liebte den Charme alter Häuser; Dielen, die knarrten, Balken, die ächzten. Ein romantischer Garten mit wilden Blumen und Schmetterlin­gen …

Auf dem Bildschirm tauchte eine kleine Stadtvilla in Meudon auf. Frei ab Februar. Das würde passen. Zwei Stock­werke und ein kleines Dachzimmer, eine Fassade aus Bruchsandstein, grüne Fens­terläden, schmiedeeiserne Balkongitter, ein Kamin im Wohnzimmer. Ein kleiner Garten war auch dabei, gepflegt sogar. Die Miete war horrend, aber die Lage hervorragend. Aus dem Dachfenster hatte man Blick auf den Eiffelturm. Paris war greifbar nahe und doch weit genug entfernt, um nicht von der Stadt über­wältigt zu werden. Der Bahnhof in der Nähe und der Gare Montparnasse war in 15 Minuten mit dem Zug erreichbar. Zum ersten Mal seit über einem Jahr spürte Ava in der Herzgegend ein kleines Flattern, einen winziger Stolperer, wie ein Freudensprung angesichts der Mor­gensonne nach einem langen, dunklen Winter...

  

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