Ruhestörung

Eine magische Kurzgeschichte

 

Letzte Woche bin ich gestorben. Nein, keine Sorge, es war gar nicht so schlimm. Es tat nicht weh und ich hatte auch keine Angst. Alle waren da, mein Mann, meine Kinder, sogar mein Enkelsohn saß an meinem Bett, als es so weit war. Ich hätte es mir nicht schöner wünschen können.

Es gab nur ein kleines Problem.

Und das war der Tod selbst. Ich hatte immer geglaubt, nur der Tod kennt keine Angst, denn wovor sollte er sich fürchten, schließlich lebt er so lange schon mit sich selbst.

Ich lag also da und erwartete ihn. Mein Mann hielt meine Hand, was ich sehr lieb von ihm fand, denn das hatte er schon seit Jahren nicht mehr getan. Sabine, meine Älteste, hatte extra eine kleine Nachtlampe gekauft, die den Raum in ein sanftes Willkommenslicht tauchte. Extra für ihn, diesen gefürchteten Gast, der so lautlos kommt, dass die Lebenden ihn erst bemerken, wenn er schon wieder gegangen ist.

Es war alles perfekt vorbereitet, wie immer bei uns. Dem Zufall haben wir nie eine Chance gegeben. Selbst der Krebs hatte sich unserer Planung untergeordnet und mir Zeit gelassen, meinem Mann seine zahlreichen Affären zu verzeihen und mir selbst die vielen Jahre ungelebter Träume. Ich war sehr dankbar, dass meine Kinder zu diesem feierlichen Anlass gekommen waren, denn schließlich hatten sie viele Verpflichtungen.

Für mich gab es nichts mehr zu tun in diesem Leben. Die Schönheit, mit der ich dem Erfolg meines Mannes Glanz verliehen hatte, war schon lange nur noch eine Erinnerung im Familienalbum. Der Krebs war eine gute Entschuldigung für mich, die Party frühzeitig zu verlassen.

Sabine hatte mich zurechtgemacht. Die Haare gekämmt, ein frisches Nachthemd angezogen, weiß, mit Spitzenbesatz am Kragen. Genau richtig für den großen Moment. Sie fotografierte mich mit ihrem Handy, in dem all die anderen großen Momente ihres erfolgreichen Lebens steckten.

„Du siehst wunderschön aus, Mama“, flüsterte sie und streichelte meine Wange, die knisterte wie ein herabgefallenes Blatt an einem trockenen Novembertag.

 

Der Vorteil des Sterbens ist, dass man nie so geliebt wird, wie in diesem Augenblick. Ein Leben lang strampelt man sich ab für die Liebe der Anderen, die man erst dann uneingeschränkt bekommt, wenn man aufgehört hat, darum zu kämpfen.

Sie saßen da, meine Lieben, neben meinem Bett und betrachteten mich wie die leere Verpackung eines einst geschätzten Möbelstücks. Sie flüsterten leise, um den Tod nicht zu stören, der nun bald kommen sollte.

 

Der Vorteil des Sterbens ist auch, dass man bemerkt, wenn der Tod den Raum betritt. Der Nachteil ist, dass man es den anderen nicht mehr mitteilen kann.

Der Morphiumnebel lichtete sich und ich konnte ihn sehen. Er stand da, ganz nah, bereit mich aufzunehmen in seine starken Arme.

„Rückt ein wenig zusammen, ich möchte noch ein Foto machen“, flüsterte Sabine in dem Moment, als der Tod sich über mich beugte.

Ich konnte das Entsetzen in seinen Augen sehen.

Ich gebe zu, es ist ein prächtiges Bild: ich, so willig im weißen Gewand, und meine Familie, so vereint in ehrfürchtiger Erwartung.

Als das Klicken der Handykamera die Stille durchschnitt, raffte der Tod die Überbleibsel meines Lebens zusammen und ergriff die Flucht. Dabei ließ er jedoch etwas zurück: mich, ohne das Bild im Spiegel, zu dem ich Ich sagen kann.

Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, dass dieser Körper, über dem mein Sohn weinend zusammengebrochen war, nicht mehr mir gehörte.

 

Was davon geblieben ist, steckt nun in einem kostbaren Sarg, aufgebahrt vor 200 geladenen Gästen, die die Nachricht von meinem Tod unmittelbar nach dem Ereignis ereilte.

Es steckt auch in der Handykamera meiner Tochter, die nicht müde wird, das Bild herumzuzeigen, das den Moment meines Todes für die digitale Ewigkeit festhalten sollte. Die noch nie müde wurde, die glanzvollen Momente ihres Lebens in Pixel zu pressen und darüber allzu oft an der Wirklichkeit vorbeilebt. Nur leider wurde der Tod in seiner Arbeit gestört. Er lässt sich nicht ablichten – nichts fürchtet er mehr.

So bin ich nun mein eigener stiller Schatten, unsichtbar zwischen den eifrig Trauernden und werde Zeugin meiner Großartigkeit, von der ich im Leben nichts wusste.

Ich weiß noch nicht, ob ich es meiner Tochter übelnehmen soll, dass sie mit diesem Foto den Tod so durcheinandergebracht hat. Sie konnte ja nicht ahnen, was sie anrichten würde. Wenn ich es jetzt noch könnte, würde ich ihr sagen, dass auf Bildern nicht zu sehen ist, was im Herzen liegt. 

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